4. Revolutionaer

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Hölderlin als Revolutionär?

In seiner Beitrag „Hölderlin und die Französische Revolution“ zum Hölderlin-Jahrbuch 1968 nennt Pierre Bertaux drei große Erlebnisse Hölderlins: Das Wesen der Griechen, die Liebe zu Susette Gotard und die französiche Revolution, wobei letzteres das entscheidende gewesen sei. Hölderlin als Revolutionär – das erscheint zunächst reichlich abwegig. Gilt er doch als „schönheitstrunkener Schwärmer, als die zarte Seele, die bestimmt war, mit ihrer inneren Traumwelt am Schicksal zu zerbrechen“ (Eduard Spranger zit. von Bertaux).

Jakobiner und Dichter

Unbekannter Künstler, Jakobiner

Bertaux weist nach, dass Hölderlin zeitlebens ein „Jakobiner“ gewesen ist, der an die Ideale Gleichheit, Brüderlichkeit und Freiheit geglaubt und die Errichtung einer Republik angestrebt hat. Seine politische Überzeugung hatte sich in der Frühzeit der französischen Revolution im Stift in Tübingen gebildet und sie hat sich zeitlebens kaum geändert. Er hatte regen Kontakt zu einer Reihe von Freunden und Bekannten, die bekennende Jakobiner waren, allen voran Isaak von Sinclair. Der Kreis um Sinclair wollte aktiv die Revolution in Schwaben und ganz Süddeutschland vorantreiben. Der Rastatter Kongress war eine aktive Keinzelle der Bewegung; an deren Treffen nahm Hölderlin 1798 teil. Der Traum zerplatzte 1799. Der Rastatter Kongress wurde zerschlagen, die franzosichen Truppen zurückgeschlagen und die Revolutionäre verhaftet. Die Hölderlinforschung ist sich einig darin, dass Hölderlin an diesen Entwicklungen mit starker innerer Anteilnahme beteiligt war. „Wie soll aber ein Dichter handeln? An sich ist die richtig verstandene Ausübung des Dichterberufs schon eine Form des Handelns. Auch nach der Enttäuschungvon 1799 – und dann mehr denn je – glaubte Hölderlin an die Berufung des Dichters, die darin besteht, die ruhelosen Taten in weiter Welt, die Schicksalstage, die reißenden, nicht zu verschweigen und die Völker vom Schlafe zu wecken“ (Bertaux, Der andere Hölderlin, S.79).

Die nächsten Jahre bis 1805 werden in diesem Kontext nicht als Abdriften in den Wahnsinn verstanden. Vielmehr hat Hölderlin in dieser Zeit lyrisch-mythisch Gesänge verfasst, die in chiffrierter Form das Ideal der Freiheit vertreten. Die Tarnung in ein griechisches Gewand und in eine lyrische Formsprache sollte vor Verfolgungen schützen.

Revolutionäre Sehnsuchtsorte?

In diesem Zusammenhang sind die Reisen von Hölderlin in die Schweiz (1801) und nach Bordeaux (1802) bemerkenswert. Schon lange vor Schillers galt Hölderlin die freie Schweiz als Vorbild für ein freies Volk, das sich von der Tyrannei befreit hat. In Bordeaux hatte Karl Friedrich Reinhard, ein entfernter Vetter von Hölderlin, begeistert an der Französischen Revolution teilgenommen. Man kann die Reisen möglichweise als die Suche nach der „verlorenen Revolution“ verstehen. Hauptwil in der Schweiz erwies sich als sehr förderlich für Entstehung einer ganzen Reihe von Texten. Aus unbekanntem Grund endete die Zeit jedoch nach einigen Monaten. Über den Aufenthalt in Bordeaux ist wenig bekannt. Auch hier kehrt er nach einigen Wochen Aufenthalt wieder nach Nürtigen zurück. Diese Reise hat ihn psychisch und physisch schwer angeschlagen.

„Hälfte des Lebens“ und die Revolutionshoffnungen

Das „Wehe mir…“ bezieht sich demnach nicht nur auf Hölderlins persönliche Situation (Tod von Susette, psychische Instabilität, Unmöglichkeit, eine gesicherte Dichterexistenz aufzubauen…). Auch die politischen Erwartungen auf die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse sind zerstoben. Mögliche Sehnsuchtsorte der Freiheit (Schwyz, Bordeaux) erwiesen sich als Ent-Täuchung.

Erstaunlich ist, dass inmitten dieser existentiellen Verluste eine Vielzahl von bemerkenswerten dichterischen Werken entstehen.